Interview vom 15.12.2023 in DAS INVESTMENT
DAS INVESTMENT: Anleger hatten mit Schwellenländer-Investments nicht überall Grund zum Jubeln. Womit hadern Investoren dort?
Stefan Grünwald: Die Performance von Emerging Markets war aus Investorensicht immer schon von globalen Themen und Risiken geprägt. Neben Ereignissen wie dem Rohstoffboom der Nullerjahre, der globalen Finanzkrise, der Covid-Pandemie oder dem Aufstieg Chinas hat speziell die Zinspolitik der Fed die Kapitalströme in die Emerging Markets immer wieder sehr stark beeinflusst. Auch die massiven Zinsanhebungen der Fed in den vergangenen zwei Jahren und die global hohe Inflation hat Schwellenländern massiv zugesetzt. Auch wenn die Inflationsraten inzwischen wieder rückläufig sind, hat dieser Rückgang jüngst doch an Dynamik verloren.
Was heißt das für Ihren Ausblick?
Stefan Grünwald: Für die Emerging-Markets-Anleihenmärkte bedeutet das, dass die erhoffte Trendwende vorläufig einmal abgesagt ist und man sich auf ein Höher-für-länger-Szenario einrichtet, also auf Anleiherenditen und Leitzinsen, die länger auf erhöhten Niveaus verharren werden als ursprünglich angenommen. Der zuletzt disinflationäre Effekt dürfte bald vorbei sein, da die globale Güterpreisinflation wieder leicht anzieht. Betrachtet man das globale Wachstumsbild so hat sich das Wachstumsdifferenzial der Schwellenländer im Vergleich zu den entwickelten Märkten nach 2021 und 2022 wieder ausgeweitet.
China spielt für die Emerging Marktes eine zentrale Rolle. Derzeit stottert aber auch dort der Motor. Mit welchen Konsequenzen?
Stefan Grünwald: Trotz des rückgängigen Wachstums in China bleibt Asien die globale Lokomotive. Es gibt zunehmend Anzeichen dafür, dass Chinas Konjunktur die Talsohle durchschritten hat. Wachstumsraten jenseits der 5 bis 6 Prozent wird es aufgrund der Probleme auf dem chinesischen Immobilienmarkt zwar nicht mehr geben, aber auch ein deutlich moderateres Wirtschaftswachstum wird angesichts der schieren Größe der chinesischen Volkswirtschaft noch immer positiv auf andere Schwellenländer und die Welt ausstrahlen.
Wie reagieren Anleger auf diese Entwicklung?
Stefan Grünwald: In den vergangenen Monaten setzen sich die Abflüsse bei Schwellenländer-Anleihen fort. Nachdem lange Zeit vor allem Lokalwährungsanleihen vom Rückzug der Investoren betroffen waren, werden seit Juli auch zunehmende Verkäufe bei Hartwährungsanleihen registriert. Die US-Dollar-Finanzierungsmöglichkeiten und die Liquiditätssituation von schwächeren Emerging-Markets-Ländern hat sich daher in den letzten Monaten verschlechtert.
In den aktuellen Renditen und Währungsbewertungen werden jedoch die Risiken und zu erwartenden Umschuldungen durch den Kapitalmarkt größtenteils vorweggenommen und bieten daher attraktive Bewertungsniveaus für langfristige Veranlagungen. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an Ländern und Währungen, in die investiert werden kann.Diese breite Differenzierung bietet immer wieder Chancen für Anleger.
Wie sieht das Bild für Aktionäre aus?
Jürgen Maier: Auch aktienseitig befinden wir uns aktuell in einer Durststrecke, die leider schon einige Jahre andauert. Die relative Performance der Emerging-Markets-Aktien im Vergleich zu den entwickelten Märkten war in den letzten zehn Jahren enttäuschend. Die Phasen von Out- und Underperformance waren in den letzten 35 Jahren langandauernde Zyklen und aktuell befinden wir uns in einem Abwärtstrend, dessen Hauptursache die Aktienmarktschwäche Chinas ist.
Wo liegen denn derzeit die größten Investmentchancen?
Jürgen Maier: Betrachtet man einzelne Branchen und Unternehmen, gibt es positive Entwicklungen speziell im Hinblick auf ESG. China ist global führend bei Investments in erneuerbare Energien, aber auch beim Thema Elektromobilität. Das Land hat mit E-Mobilität schon vor Jahren auf das richtige Pferd gesetzt und ist dort auch in Sachen Software und Entertainment innovativer als viele globale Mitbewerber. Auch preislich sind chinesische Hersteller – beispielsweise gegenüber europäischen Mitbewerbern – mehr als konkurrenzfähig. China hat sich daher zu einem wichtigen Auto-Exportland entwickelt. Dort finden sich für Investoren sehr interessante und gut aufgestellte Unternehmen.
Sie haben aber noch mehr nachhaltige Länder-Favoriten?
Jürgen Maier: Ja, aus ESG-Sicht ist auch Indien ein sehr spannender Markt für Aktieninvestments. Das Land könnte schon bald China als Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft ablösen. Beim Bevölkerungswachstum hat Indien jedenfalls eindeutig die Nase vorn. In Indien gefallen uns besonders Finanztitel, die Kredite für leistbaren Wohnraum bereitstellen.
Auch IT-Outsourcing ist aus nachhaltiger Sicht für uns ein sehr interessanter Geschäftszweig. Hier zählten die größten indischen Unternehmen in dieser Branche zu den ersten, die in Indien eine Mutterschutz-Regelung etabliert haben, die inzwischen für andere Industrien Vorbildfunktion hat. Sehr positive Effekte hat gerade auch die Geschäftsstrategie „China plus One“. Dabei wird mit Blick auf die Lieferketten versucht, den Bau neuer Fertigungshallen in China zu vermeiden und in andere Regionen wie zum Beispiel Indien und Mexiko zu verlagern.
Und wo finden Anleger die aussichtsreichsten Aktien?
Jürgen Maier: Sollte der produzierende Bereich wieder an Dynamik zulegen, würden zumindest Teile der Schwellenländer profitieren, sowohl bei den Unternehmensgewinnen als auch bei den Aktienkursen. Gute Selektion ist aber wichtig. Denn obwohl Schwellenländer-Aktien insgesamt deutlich günstiger bewertet sind als die Aktien in den Industrienationen, besitzen vor allem jene Unternehmen und Branchen Aufwärtspotenzial, die positive Gewinnrevisionen und einen optimistischeren Ausblick vorweisen können.
Das gilt vor allem für einige lateinamerikanische und asiatische Märkte, aber auch für einige Schwellenländer im Mittleren Osten und Europa. Die großen globalen Schwellenländer-Aktienindizes notieren derzeit ungefähr auf dem Stand vom Jahresbeginn. Bei einzelnen Aktien und Ländern gab es im selben Zeitraum aber durchaus erhebliche Bewegungen nach oben und unten.
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Details zu aktuellen Entwicklungen der Emerging Markets.
Hat sich der Unterschied zwischen Schwellenmärkten und Industriestaaten grundsätzlich verringert?
Jürgen Maier: Durchaus, lange Zeit war die mangelnde Datenbasis einer der Hauptgründe, weshalb sich die professionelle ESG-Analyse von Unternehmen und Staaten auf die Industrienationen fokussierte. Doch die Schwellenländer haben in den letzten Jahren sehr stark nachgezogen. Im Zuge des Nachhaltigkeits-Booms rückten so auch immer mehr ESG-Fonds mit Schwerpunkt Emerging Markets auf den Markt. Auch wenn nachhaltiges Investieren in Schwellenländern noch immer nicht ganz so einfach umsetzbar ist wie beispielsweise in Europa, sind die Standards doch erheblich gestiegen. Nicht zuletzt durch das Engagement nachhaltiger Investoren, mit dem Unternehmen davon überzeugt werden konnten, ihre Datenqualität zu erhöhen.
Das nehmen Sie für sich in Anspruch?
Jürgen Maier: Absolut, die Qualität verantwortungsvoller Geldanlagen hängt sehr stark vom Nachhaltigkeitsansatz des jeweiligen Anbieters ab. Raiffeisen Capital Management wendet bei der Auswahl der Investments strenge Kriterien an, denn nur so gelingt es, den Nachhaltigkeitsansprüchen unserer Kunden – und natürlich auch unseren eigenen – gerecht zu werden. Im Aktiensegment umfasst das Gesamtuniversum rund 1.000 Unternehmen, wo Nachhaltigkeitsdaten in erforderlicher Qualität vorhanden sind.
Nach der Überprüfung der Negativkriterien wie Verletzung von Menschen- oder Arbeitsrechten fallen circa 200 Firmen als nicht investierbar aus diesem Pool. Nach einer nachhaltigen Detailanalyse mit unserem Raiffeisen-ESG-Indikator scheiden nochmals 300 Unternehmen aus. Aus den verbliebenen 500 Titeln stellen wir dann ein Portfolio aus den rund 70 bis 90 aussichtsreichsten Aktien zusammen. In diese Auswahl fließen auch die Erkenntnisse unserer hauseigenen Analysen ein.
Nachhaltige Investments sind in der Investorengunst gesunken. Warum ausgerechnet ESG in Schwellenmärkten?
Stefan Grünwald: Die Emerging Markets sind für die globale Transformation hin zu einer nachhaltigeren Welt von immenser Bedeutung. Aus diesem Grund ist für nachhaltig ausgerichtete Investoren eine Betrachtung der Emerging Markets in den letzten Jahren in Hinblick auf Globalisierung und Lieferketten unverzichtbar geworden. Schwellenländer können einen größeren Hebel, sprich Wirkungsgrad bei Verbesserungen aufweisen, beispielsweise in Ländern mit tieferen ESG-Niveaus, haben aber auch tendenziell eine höhere Exposition zu ESG-Risiken und Wachstumschancen. Das zentrale Ziel von ESG-Ansätzen für Emerging Markets muss die Unterstützung von nachhaltiger Entwicklung und nachhaltigen Potenzialen sein. Nachhaltig investieren bedeutet in diesem Kontext insbesondere, die Transformation verantwortungsvoll zu begleiten.
Worauf müssen Sie dabei achten?
Stefan Grünwald: Es gibt eine Reihe an Herausforderungen. Abgesehen davon, dass es die unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Emerging Markets beim ESG-Investmentansatz zu berücksichtigen gilt, bedingt ein tieferer ökonomischer Entwicklungsstand tendenziell auch einen niedrigeren ESG-Entwicklungsgrad. Hinzu kommt, dass die Produktion von Exportgütern in den letzten Jahren substanziell von den entwickelten Märkten in Richtung Emerging Markets verschoben wurde.
Auch die Tatsache, dass sich die größten Rohstoffvorkommen in Schwellenländern befinden und dort naturgemäß auch abgebaut werden, ist für die ESG-Bewertung der betroffenen Märkte ein herausforderndes Kriterium. Diese Herausforderungen ziehen daher eine starke qualitative Differenzierung der Länder nach sich. Wichtig ist beim Begleiten der Transformation, dem Prinzip Fördern und Fordern zu folgen.
Wie gehen Sie bei der Auswahl von Schwellenländer-Anleihen vor, wenn Sie ESG-Kriterien berücksichtigen?
Stefan Grünwald: Angelehnt an die EU-Taxonomie legen wir in einem ersten Schritt den Schwerpunkt auf ökologische Aspekte, lassen aber Soziales und Unternehmensführung nicht außer Acht. In die Analyse sind neben den ESG-Beurteilungen von MSCI und ISS mit Ratings sowie Reports unter anderem die Veränderung von CO2-Emissionen, der Anteil von erneuerbaren Energien und deren Ausbaustufe, der Kohleverbrauch pro Kopf, die Bevölkerungsdichte, die Lebenserwartung, der Gini-Koeffizient sowie Politik- und Korruptionsindexwerte wesentliche Beurteilungsfaktoren.